"Per evangelica dicta..." - Sündenvergebung durch das verkündete Wort

Veröffentlicht auf von Markus Tymister

"Per evangelica dicta..." - Sündenvergebung durch das verkündete Wort

Nach der Verkündigung des Evangeliums in der Messfeier küsst der Diakon (bzw. der Priester) das Buch und spricht dabei leise: Per evangelica dicta deleantur nostra delicta. - Herr, durch dein Evangelium nimm hinweg unsere Sünden.

In der lateinischen Fassung der Formel wird allerdings deutlicher als in der deutschen Übertragung, worum es hier geht: Wir bitten nicht nur allgemein, dass durch das Evangelium unsere Sünden hinweggenommen werden, sondern es geht um die Verkündigung des Evangeliums: Durch die verkündeten Worte des Evangeliums mögen unsere Vergehen vernichtet (deleantur) werden. Da zudem eine Verkündigung ohne Adressaten notwendigerweise unvollständig bleibt, ist das verstehende Anhören des Wortes inbegriffen. Das in der Liturgie verkündete und hörend angenommene Wort Christi (nicht das private Lesen ist hier gemeint) bewirkt Tilgung der Sünden.

Die Frage, ob es hierbei um lässliche oder schwere Sünden geht, ist hinfällig, da die Formel älter ist als die Unterscheidung zwischen Todsünden und lässlichen Sünden, wie sie das Konzil von Trient im 16. Jh. kodifiziert. Die Formel unterstreicht den Glauben an die Wirkmächtigkeit des Wortes Gottes: Wenn dieses Wort in die Herzen der Menschen trifft (daher ist das Anhören und das glaubende Annehmen dieses Wortes inbegriffen), dann bewirkt es Umkehr und Vergebung.

Ähnliche Formeln begleiten den Kuss des Evangeliums etwa seit der ersten Jahrtausendwende. Besonders häufig ist lt. J. A. Jungmann (Missarum sollemnia 1, Wien-Freiburg-Basel (5)1962, 577, n. 62) "[...] die um 1030 in der Missa Illyrica [ein wohl eher als apologetisches Ideal zu verstehender und nicht für die konkrete Feier vorgesehener Messordo / M.T.] erscheinende, meistens leicht variierte Formel: Per istos sanctos sermones evangelii Domini nostri Jesu Christi indulgeat nobis dominus universa peccata nostra." Die heute gebräuchliche Formel Per evangelica dicta... hingegen ist im Mittelalter kaum nachweisbar und setzt sich wohl erst im 15. Jahrhundert durch. Beispielsweise taucht sie im 13. Jh. in einem Messordo des Klosters St. Gregor in Basel auf (s. De antiquis ecclesiae ritibus libri 1. Ordo XXXII, ed. E. Martène, Antwerpen 1736, 655) und vorher, am Ende des 12. Jh. bei Innozenz III (De sacro Altari Mysterio, ed. S. Fioramonti (MSIL 15), Città del Vaticano 2002 [ich danke meinem Doktoranden Alain Pierre Yao für die Hinweise]) , bevor sie im nachtridentinischen Messbuch von 1570 allgemein vorgeschrieben wird. Ob die Formel laut oder leise zu sprechen ist, ist - bis zum Römischen Messbuch von 1962 einschließlich - nirgends gesagt. Es ist wohl dem verpflichtenden Gebrauch der zunehmend für die Teilnehmenden unverständlichen lateinischen Sprache zuzuschreiben, dass sie in der gottesdienstlichen Praxis weitgehend leise gesprochen wurde, wodurch allerdings der sündenvergebende Charakter der Verkündigung des Evangeliums in Vergessenenheit geraten konnte. Erst das erneuerte Messbuch von 1970 schreibt dann allerdings ausdrücklich vor, dass der Diakon (bzw. der Priester) die Formel leise sprechen sollen.

Sollte diese Formel heute allerdings noch einen Sinn haben, so wäre sie folgerichtig laut und verständlich zu sprechen, denn sie hängt nicht mit der persönlichen Spiritualität des Diakons oder Priesters zusammen, sondern verweist auf den sakramental reinigenden Wert des in der Messfeier verkündigten Wortes Gottes (vgl. V. Raffa, Liturgia eucaristica. Mistagogia della Messa (BEL.S 100), Roma (2)2003, 323 und R. Tichý, Proclamation de l'Évangile dans la messe en Occident. Ritualité, histoire, comparaison, théologie (Pont. Anthenaeum S. Anselmi de Urbe - Pont. Institutum Liturgicum, Thesis ad lauream 436 und demnächst in der Reihe Studia Anselmiana), Roma 2014, 201-209).

Dass ein lautes Sprechen einer solchen Formel in der Geschichte des römisch-fränkischen Ritus durchaus möglich war, beweist zumindest eine im steiermärkischen Landesarchiv in Graz unter der Nr. 17 aufbewahrte Missalhandschrift aus dem 12./13. Jahrhundert aus dem Salzburger Raum (Handschriftliche Missalien in Steiermark, ed. J. Köck, Graz und Wien 1916, 123): Nach der Verkündigung des Evangeliums sagt er (Diakon oder Priester, was aus der Handschrift nicht genau hervorgeht) Pax tibi, worauf die Umstehenden mit der aus der Missa Illyrica bekannten Formel antworten Per istos sermones sancti evangelii domini nostri Jesu Christi indulgeat nobis dominus universa delicta nostra - Durch diese verkündeten Worte des heiligen Evangeliums unseres Herrn Jesus Christus, vergebe uns der Herr alle [universa!] unsere Vergehen.

Auch im ökumenischen Dialog wäre die Verdeutlichung der Wertschätzung der Wortverkündigung als sakramentales Handeln in der kath. Kirche durchaus hilfreich.

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