Wie kommt das Vater unser in die Messe?

Veröffentlicht auf von Markus Tymister

Wie kommt das Vater unser in die Messe?

Die ursprüngliche Gestalt des Ablaufs der eucharistischen Liturgie ist ganz schlicht: Auf das Danksagungsgebet über die Gaben (eucharistisches Hochgebet) folgt die Brechung des Brotes als notwendige Vorbereitung für die Austeilung und dann sofort die Kommunion an Leib und Blut Christi. "Alles übrige, sowohl die rituelle Gestaltung der Gabenbereitung wie auch die Entfaltung der präkommunialen Riten ist sachlich demgegenüber sekundär" (R. Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn 2001, 196).

Im heutigen römischen Messbuch findet sich, bedingt durch eine im Laufe der Geschichte erfolgte Entfaltung der präkommunialen Riten, das von allen gesprochene oder gesungene Vater unser, das zwischen Eucharistiegebet und Brotbrechung engeschoben ist. Man kann davon ausgehen, das das nicht immer so war. Trotz der immer sehr hohen Wertschätzung des Vater unser bei den Christen, hat man anfangs keine Notwendigkeit gesehen, es auch bei der Feier der Eucharistie zu beten; später wird es dann aber zu einem der zentralen Elemente vor der Kommunion und ist in allen Liturgien zu finden (vgl. R. Taft, «The Lords Prayer in the Eucharistic Liturgy: When and Why», Ecclesia Orans 14 (1997) 137).

Die Didache, eine Kirchenordnung, deren Quellen wohl auf das 1. Jahrhundert zurückgehen und die im syrischen Raum entstanden ist, überliefert in Kap. 8, 3 die Aufforderung, das Vater unser dreimal täglich zu beten, allerdings bleibt diese Verpflichtung für lange Zeit noch auf den Bereich des privaten Gebetes beschränkt. Die Aufnahme biblischer Texte als Gebetstexte in liturgische Formulare ist nach einem allgemeinen Gesetz der Liturgiegeschichte Zeichen einer relativ späten Entwicklungsstufe. Dies trifft auch auf den Fall des Herrengebetes zu.

Die erste Erwähnung des Vater unser in der Messfeier finden wir im 4. Jahrhundert in einer Katechese des Bischofs Cyrill von Jerusalem, also für die - im Laufe der folgenden Jahrhunderte untergegangene - Jerusalemer Liturgie. Vor Cyrill gibt es nirgends einen sicheren Beleg für den Gebrauch des Vater unser in der Eucharistieliturgie (vgl. R. Taft, A History of the Liturgy of St. John Chrysostom. The Precommunion Rites, Bd. 5 (Orientalia Christiana Analecta 261), Rom 2000, 136). In diesem Zusammenhang ist die Hypothese von Enrico Mazza nicht nur interessant, sondern auch überzeugend, dass es eben dieser Cyrill war, der als Bischof von Jerusalem (351-386) das Vater unser in die Liturgie eingeführt hat (vgl. E. Mazza, «Il Padre nostro entra nei riti di comunione della messa. Una ipotesi», Annali di Scienze Religiose 3 (2010) 55-75). Gemäß Cyrill ist das Herrengebet in der Liturgie allerdings nicht ein selbstständiges Gebet, sondern bildet den abschließenden Teil der Anafora, vor dem großen Amen der Gläubigen. Es schließt sich also sofort an die Interzession für die Verstorbenen im Eucharistiegebet an und wird von allen gesprochen (Cyrill von Jerusalem, V. Mystagogische Katechese, 4-18, besonders 11 und 18, ed. A. Piédagnel, SChr 126,150-168). Ausschlaggebend für die Einführung war wohl ein Zusammenhang mit der Taufliturgie und das entscheidende Motiv vor allem die Bitte um die Sündenvergebung, die nicht nur "[...] aus dem Vaterunser einen kleinen Bußritus unmittelbar vor dem Kommunionempfang macht" (Meßner, Einführung, 220) sondern auch auch zur Versöhnung untereinander aufruft, die auch die Bedingung (Cyrill spricht von einem Pakt oder Vertrag zwischen Gott und Mensch: συνθήκη) für die Versöhnung mit Gott ist. Diese Versöhnung wird bei der Feier der Eucharistie Wirklichkeit. So erklärt er es den Neugetauften:

'Und vergib uns unsere Schulden, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern!' Zahlreich sind unsere Sünden. Wir verfehlen uns in Worten und in Gedanken und tun sehr viel Verdammungswürdiges. Würden wir sagen, daß wir keine Sünden haben, dann lügen wir, wie Johannes erklärt (1 Joh 1,8). Es ist ein Vertrag mit Gott, wenn wir beten, er möge uns unsere Sünden verzeihen, wie wir unsererseits dem Nächsten die Schulden erlassen. Bedenken wir nun, wofür wir so große Nachsicht erhalten, und säumen wir doch nicht länger, einander zu verzeihen! Die Verfehlungen gegen uns sind klein, unbedeutend und leicht gut zu machen, während unsere Beleidigungen Gottes groß sind und nur von Gottes Barmherzigkeit erlassen werden können. Habe acht, daß du dir nicht etwa wegen der kleinen, unbedeutenden Beleidigungen, die du erfahren hast, die göttliche Verzeihung deiner gar schweren Sünden verschließest!

Cyrill v. Jerusalem, V. Mystagogische Katechese, 16

Ein Gebet mit dem Vater unser abzuschließen, war zu Zeiten Cyrills ein allgemein bekannter Brauch. Da das Herrengebet den Taufbewerbern vor der Taufe als Zeichen christlicher Spiritualität feierlich übergeben wurde und als erstes Gebet der Neugetauften in der Gemeinschaft der Kirche gesprochen wurde, wurde es im Empfinden der Christen auch zu einem deutlichen Zeichen der Tauferinnerung, wenn sie privates oder öffentliches Gebet damit beendeten (vgl. A. Häußling, «Akklamationen und Formeln», in Gestalt des Gottesdienstes, hg. H. B. Meyer u. a. (GdK 3), Regensburg 1987, 236). Daher war der Weg nicht weit, auch das Eucharistiegebet mit dem Vater unser zu beenden, zumindest in der ersten Feier der Messe mit den Neugetauften an Ostern. Später ist das (still gesprochene) Herrengebet dann auch als Eröffnung des privaten (und auch öffentlichen) Gebetes bezeugt, ähnlich wie das heute gebräuchliche Kreuzzeichen, das ja auch Tauferinnerung ist.

Für Nordafrika und Rom lassen sich ebenfalls vor dem letzten Quartal des 4. Jahrhunderts keine Zeugnisse für das Vater unser in der Messe finden. Einen ersten Beleg finden wir im Jahr 366 bei Optatus von Mileve (Contra Parmen. II, 20, ed. C. Ziwsa, CSEL 26,56) und auch Augustinus (+ 430) kommt mehrfach darauf zurück: So schreibt er in seinem Brief Nr. 149, Kap. 16 (ed. A. Goldbacher, CSEL 44,362): "[...] quam totam petitionem [das Eucharistiegebet der Messe] fere omnis Ecclesia dominica oratione concludit". Der Gebrauch des Wortes fere (so ziemlich/fast) zeigt, dass er auch von Ausnahmen weiß. Vielleicht hat sich hier in Nordafrika der von Jerusalem kommende Brauch verbreitet, die Anafora mit dem Vater unser zu beenden. Da sich im Bereich des römischen Ritus wohl ab dem 5. Jahrhundert der Canon Romanus als einziges Eucharistiegebet durchsetzt, der das Vater unser nicht vorsieht, sondern mit der großen Doxologie endet, wurde das Gebet des Herrn hier wohl verschiedentlich vor der Kommunionausteilung eingefügt, während nach dem Canon sofort die Brotbrechung folgte (so auch in den anderen abendländischen Liturgien, nämlich im altspanischen, gallikanischen und ambrosianischen Ritus, in denen sämtlich die Brotbrechung dem Gebet des Herrn vorangeht. Im altspanischen und ambrosianischen Ritus ist dies bis heute noch der Fall, während der gallikanische Ritus ja in den Reformbestrebungen Karls d. Großen und seiner Nachfolger untergegangen ist). In Spanien war das Vater unser bis in das 7. Jahrhundert hinein nicht überall in Gebrauch. Erst das 4. Konzil von Toledo (633) bestand darauf, dass es täglich und nicht nur sonntags zu beten ist (can. 10: Mansi 10, Florenz 1764, 621) und zwar sowohl privat als auch in der öffentlichen Liturgie der Messe.

Gregor der Große (+ 604) gab dem Herrengebet seinen festen Platz in der römischen Messe, den es bis heute hat. Vielleicht hat er sich dabei von der ihm aus Konstantinopel bekannten byzantinischen Liturgie leiten lassen, in der - nach einer kurzen Litanei - das Vater unser vor der Brotbrechung steht (in den nichtbyzantinischen Liturgien des Ostens geht dem Vater unser regelmäßig mindestens die Brotbrechung voraus). Als Argument für den heutigen Platz des Herrengebetes führt Gregor selbst an, dass es ihm sehr unangebracht erscheine, dass wir zwar ein von einem menschlichen Gelehrten verfasstes Eucharistiegebet über die Gaben sprechen, aber das Gebet, das unser Erlöser selbst verfasst hat, erst beten, wenn sein Leib und sein Blut sich nicht mehr auf dem Altar befinden:

Et valde mihi inconveniens visum est, ut precem, quam scholasticus composuerat, super oblationem diceremus et ipsam traditionem, quam Redemptor noster composuit, super eius corpus et sanguinem non diceremus.

Gregor d. Große, Ep. IX, 12 (PL 77, 957)

Solange die eucharistischen Gaben noch auf dem Altar liegen, wollte er also das Vater unser gesprochen wissen. Da das Brechen des eucharistischen Brotes mit dem Verteilen einherging, wurde es dazu vom Altar genommen. Daher musste das Vater unser vor der Brotbrechung beendet sein, wenn man es über den auf dem Altar liegenden Gaben beten wollte. In der römischen Liturgie zur Zeit Gregor d. Großen war es allerdings nur der Priester, der das Vater unser sprach. Diese noch aus der Zeit der Arkandisziplin stammende Vortragsweise mit mit ursprünglich nur laut gesprochenem Schlussdialog (ab der letzten Bitte: et ne nos inducas in tentationem und der Antwort sed libera nos a malo) wurde erst mit der Liturgiereform nach dem 2. Vatikanum geändert.

Festzuhalten bleibt, dass in der Grundstruktur der eucharistischen Liturgie das Hochgebet und der Kommunionempfang auf engste miteinander verbunden sind. Dies muss auch in der Feier deutlich werden, daher ist es ratsam, die weiteren Elemente nicht zu sehr zu betonen. Der sachliche Zusammenhang zwischen Eucharistiegebet und Kommunion fordert auch, keine Hostien aus dem Tabernakel zu verwenden; dieser - leider noch weit verbreiteten - Praxis liegt die Kommunonspendung außerhalb der Messe zugrunde (vgl. Meßner, Einführung, 218). Wenn man in dem ritualisierten Mahl der Messe das Tischgebet sucht, so ist dies das Hochgebet, nicht das Vater unser. Reinhard Meßner regt in diesem Zusammenhang an: "In Meßfeiern mit einer kleineren Gemeinde (z. B. Werktagsmessen) würde die Sequenz Hochgebet - Brechung - Kommunion genügen" (Einführung, 218).

Und was ist mit dem Friedensgruß

Hier stehen wir vor einem weiteren Element, das den Eindruck erweckt, es sei in den ursprünglichen Ablauf hineingeschoben worden. Die Gestalt, die Friedensgebet und Friedensgruß im heutigen römischen Ritus haben, lassen ihn tatsächlich zu einem jener sekundären Elemente werden, die Hochgebet und Kommunion voneinander trennen. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass der Friedensgruß, bzw. Friedenskuss nicht in erster Linie als Akt der menschlichen Versöhnung (im Sinne von Mt 5,23-24) vor dem Opfer bzw. vor der Kommunion zu sehen ist, und auch nicht als Akt der Weitergabe des uns von Christus am Kreuz erwirkten Friedens, sondern als Gebetsschluss, als Besiegelung und Bekräftigung des Gebetes. Im 2. Jahrhundert spricht Tertullian vom signaculum orationis, dem Friedenskuß, mit dem die Christen ihr Gebet beschließen:

Auch eine andere Gewohnheit ist nun eingerissen. Die, welche fasten, entziehen nach Abhaltung des Gebetes den Brüdern den Friedenskuß, welcher die Besiegelung des Gebetes ist. Wann aber wäre denn mehr den Brüdern der Friede zu gewähren als dann, wenn das Gebet mit Taten verbunden kräftiger aufsteigt? Um auch an unserem Wirken Anteil zu erhalten, mögen sie von ihrem Frieden, dessen sie voll sind, auch auf den Bruder übertragen. Kann ein Gebet bei Versagung des heiligen Kusses vollständig sein? Wen hindert denn der Friedenskuß an einem Dienste des Herrn?

Tertullian, De Oratione (Über das Gebet), 18

Daher ist der Friedenskuss in den ältesten Quellen immer der Abschluss des Gläubigengebetes, also unserer heutigen 'Fürbitten', um "[...] die aus dem gemeinsamen Gebet der Gläubigen entstehende und hier eben aktuell geübte Gemeinschaft der Glaubenden zu bekunden" (Meßner, Einführung, 220). Dies ist im Allgemeinen bis heute in allen östlichen Liturgien so, wenngleich er dort entwicklungsgeschichtlich bedingt oft weiter nach hinten verschoben wurde. Auch im römischen Ritus war der Friedenskuss wohl ursprünglich die Besiegelung des Gläubigengebetes. Nachdem dieses allerdings aus verschiedenen Gründen verschwand (erst die Reform nach dem 2. Vatikanischen Konzil hat es ja an seiner ursprünglichen Stelle wiederhergestellt), musste sich der Friedenskuss als "Besiegelung des Gebetes" einen neuen Platz suchen. Daher "rutschte" er hinter das nächste als höchstwichtig anerkannt gebet und wurde zur Besiegelung des eucharistischen Hochgebetes (vgl. auch J. A. Jungmann, Missarum sollemnia, Bd. 2, Wien-Freiburg-Basel (5)1962, 401, der allerdings davon ausgeht, dass der Friedenskuss im römischen Ritus schon immer am Ende des Hochgebetes seinen Platz gehabt habe). Nachdem Gregor der Große dann das Vater unser direkt an das Hochgebet angeschlossen hatte, rückte der Friedenskuss weiter nach hinten und wurde zur Bekräftigung des Herrengebetes. Seit dem 11. Jahrhundert hat sich die Aufforderung zum Friedenskuss zu einem eigenen Vorbereitungsgebet entwickelt und hat damit die Abfolge Friedensgebet/Friedensgruß zu einem selbstständigen Ritus werden lassen, dem man die ursprüngliche Bedeutung nur noch schwerlich ansieht.

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