Was ist eine Oration? Oder: Grundstruktur liturgischen Betens

Veröffentlicht auf von Markus Tymister

Was ist eine Oration? Oder: Grundstruktur liturgischen Betens

Die Gebetssorte "Oration" ist für die römische Liturgie charakteristisch und so stellt sich die Frage, was genau sich hinter dieser Bezeichnung verbirgt. Gleichzeitig stellen uns die folgenden kurzen Überlegungen die ebenfalls für den römischen Ritus fundamentale Grundstruktur des liturgischen Betens vor Augen.

Unter "Oration" (oratio = feierlicher Vortrag, feierliche Rede) versteht die röm. Liturgie nicht zuerst einen vom Priester vorgelesenen Text, sondern eine gemeinschaftliche Gebetshandlung, die folgendem Grundschema folgt (vgl. auch R. Meßner, Einführung in die Liturgiewissenschaft, Paderborn 2001, 180):

1. Gebetsaufforderung durch den Vorsteher
2. Gebet der Versammlung als Kernhandlung (in Stille oder mit gemeinsamem Text)
3. Sammelndes Gebet des Priesters (laut vorgetragener Text aus dem liturg. Buch)
4. Zustimmende Akklamation der Versammlung: Amen.

In diesem Schema ist schon deutlich ersichtlich, dass die Kernhandlung der gesamten gottesdienstlichen Versammlung zukommt. Kernhandlung bedeutet dabei nicht unbedingt (aber kann durchaus auch bedeuten), dass sie zeitlich die längste Ausdehnung gegenüber den anderen Elementen beansprucht, sondern dass alle anderen Elemente im Dienst der Kernhandlung stehen und auf sie hingeordnet sind.

Die feierlichen Orationen der Karfreitagsliturgie

Am deutlichsten wird dieses Schema in den feierlichen Orationen des Karfreitags (im deutschen Sprachraum auch schlicht als Karfreitagsfürbitten bezeichnet).

Die Karfreitagsfürbitten sind eine Reihnung von 10 Orationen (die Anzahl ist heute aus pastoralen Gründen variabel), die alle dem selben Schema folgen. Im Folgenden ist das komplexe Schema, einschließlich der unterschiedlichen Akteure, anhand der ersten Oration der Orationenreihe dargestellt:

1. Gebetsaufforderung (Diakon):

"Lasst uns beten, Brüder und Schwestern, für die heilige Kirche Gottes, dass unser Gott und Herr ihr Frieden schenke auf der ganzen Erde, sie eine und behüte und uns ein Leben gewähre in Ruhe und Sicherheit zum Lob seines Namens."

2. Einladung zur Änderung der Körperhaltung (Diakon):

"Beuget die Knie."

3. Gebet (Versammlung):

Stilles Gebet als Kernhandlung. Die Änderung der Körperhaltung unterstreicht die Zentralität dieses Elementes.

4. Einladung zur Änderung der Körperhaltung (Diakon):

"Erhebet euch."

5. Sammelndes und laut vorgetragenes Gebet (Priester):

"Allmächtiger, ewiger Gott, du hast in Christus allen Völkern deine Herrlichkeit geoffenbart. Behüte, was du in deinem Erbarmen geschaffen hast, damit deine Kirche auf der ganzen Erde in festem Glauben verharre. Darum bitten wir durch Christus, unseren Herrn."

6. Zustimmende Akklamation (Gemeinde):

"Amen."

Die Zuordnung der Elemente ist klar zu erkennen. Es handelt sich um thematisch geordnetes Gebet der gesamten Gemeinde. In der Gebetsaufforderung des Diakons (oder des Priesters, wenn kein Diakon mitwirkt) wird die Intention angegeben. Die Kernhandlung folgt dann als Gebet aller, kniend und in Stille. Nach der Aufforderung "Erhebet euch." fasst der Priester das stille Gebet aller zusammen und lässt es münden in die Schlussformel "Durch Christus unsern Herrn." Die Gemeinde ratifiziert das Gebet dann mit dem zustimmenden "Amen. - So sei es."

 

Tagesgebet, Gabengebet, Schlussgebet

Vorstehende Grundstruktur liturgischen Betens taucht in der Liturgie immer wieder auf. So unterliegt das Tagesgebet der Messe, genauso wie die den Eröffnungsteil von Tauf- oder Trauungsliturgie abschließende Oration, der selben Struktur, in vereinfachter Form:

1. "Lasset uns beten." = einleitende Gebetsaufforderung des Priesters.
2. Stilles Gebet der Versammlung als Kernhandlung.
3. Zusammenfassendes Gebet des Priesters mit Schlussformel.
4. "Amen." der Gemeinde.

In der Bezeichnung "Kollektengebet" (lat. collecta) des Tagesgebetes wird der sammelnde, das stille Gebet der Gläubigen zusammenfassende Charakter des laut vorgetragenen Gebetes des Priesters noch besser deutlich, als im derzeitig im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Begriff Tagesgebet.

Die selbe Struktur haben auch das Gabengebet und das Schlussgebet der Messe. Für das Gabengebet, das die Handlung der Gabenbereitung abschließt, kennt das deutsche Messbuch drei Formen:

Die sog. "Form B" des Gabengebetes folgt der Struktur des Tagesgebetes. Bei der "Form C" nimmt die Gemeinde das ihr zukommende Gebet in Form einer laut und gemeinsam gesprochenen Formel wahr:

1. "Betet, Brüder und Schwestern, dass mein und euer Opfer Gott dem allmächtigen Vater gefalle." (= Gebetseinladung des Priesters)
2. "Der Herr nehme das Opfer an, aus deinen Händen, zum Lob und Ruhme seines Namens, zum Segen für uns und seine ganze heilige Kirche." (= Gebet der Gemeinde)
3. Zusammenfassendes Gebet des Priesters mit Schlussformel.
4. "Amen." (= Ratifizierung durch die Gemeinde.)

Hier wird auch deutlich, dass die Abfolge der (in diesem Falle vier) Elemente als eine Einheit zu betrachten ist. Das bedingt dann auch, dass die Gemeinde sich spätestens zur Gebetsaufforderung erhebt. Die ihr zustehende Kernhandlung, das Gebet, übt sie in der den Christen zustehenden Gebetshaltung, nämlich stehend, aus. Bleibt eine Gemeinde zu der Formel "Der Herr nehme das Opfer an..." bzw. zur Gebetsstille sitzen, so ist sie anzufragen, ob sie wirklich ihrer Aufgabe in der Liturgie nachkommen möchte. Zum liturgischen Gebet gehört hier das Stehen (oder auch das Knien wie in der Tradition der feierlichen Orationen am Karfreitag) und eben nicht das Sitzen, das eher ein aufmerksames Zuhören zum Ausdruck bringt.

Das deutsche Messbuch kennt zum Gabengebet auch noch die etwas problematische, und daher wohl selten angewandte "Form A":

1. "Lasset uns beten zu Gott, dem allmächtigen Vater, dass er die Gaben der Kirche annehme zu seinem Lob und zum Heil der ganzen Welt." (= Gebetseinladung)
2. Zusammenfassendes Gebet des Priesters mit Schlussformel.
3. Ratifizierung durch die Gemeinde in der Akklamation: Amen.

Wie unschwer zu erkennen ist, fehlt nach der hier etwas weiter ausformulierten Gebetseinladung der Hinweis auf das (zumindest) stille Gebet der Versammlung. Durch das Fehlen der Kernhandlung, wird die Oration schlichtweg unvollständig und zu einem alleinigen Akt des Vorstehers. Es wäre allerdings kein Problem, auch hier die Kernhandlung einzufügen. Leider fehlt im Messbuch der unverzichtbare Hinweis darauf.

 

Allgemeines Gebet

Auch im Allgemeinen Gebet, den Fürbitten (zur Bedeutung der Fürbitten siehe hier), findet sich die selbe Grundstruktur des Betens wieder:

1. Gebetseinladung durch den Vorsteher/Priester.

Zu beachten ist, dass die Gemeinde der Adressat der Gebetseinladung ist: "Lasst uns in den Anliegen von Kirche und Welt zu Gott dem Vater beten." ist z. B. eine dementsprechend an die Gemeinde gerichtete Aufforderung/Einladung. In der Einladung Gott anzusprechen entspricht nicht der Grundstruktur des Betens in der römischen Liturgie. Beispielsweise wäre folgende Formulierung nicht angebracht: "Allmächtiger Gott, dir tragen wir unsere Anliegen vor." Die Gebetseinladung soll die Gemeinde zum gemeinsamen Beten einladen und nicht Gott auf unser Beten vorbereiten.

2. Kernhandlung der Versammlung...

... in der Form des strukturierten (stillen) Gebetes. Der Diakon oder in seiner Abwesenheit ein anderer mit dieser Dienstfunktion betrauter, gibt einzelne Gebetsintentionen an, die die Versammlung im stillen Gebet und (oder) mit einer Akklamation aufgreift.

3. Abschließendes Gebet des Priesters.

4. Zustimmendes "Amen" der Gemeinde.

 

Folgerungen für die gottesdienstliche Praxis

Aus dem Gesaten ist nicht nur die Notwendigkeit einer gemeinsamen Gebetshaltung zu abzuleiten, sondern auch eine ars praesidendi, die es der Versammlung erlaubt, die ihr zustehende Kernhaltung, nämlich die priesterliche Aufgabe des Betens, in Würde wahrzunehmen. Die Stille zwischen "Lasset uns beten" und laut vorgetragenem Gebet des Priesters muss dann immerhin auch so lang sein, dass alle, die es möchten, wenigstens einen klaren Gedanken fassen können, auch sollte die Stille bewusst nicht genutzt werden, um im Messbuch die entsprechende Seite aufzuschlagen. Analog gilt dies auch für das Allgemeine Gebet/die Fürbitten (hier kann die Gebetsstille durchaus auch auf die gemeinsame Akklamation folgen und muss nicht notwendig zwischen Angabe der Intention und Akklamation liegen) und alle weiteren Gelegenheiten, zu denen die beschriebene Grundstruktur Anwendung findet, sowie natürlich auch für die Karfreitagsfürbitten: Wenn hier die jeweilige Gebetsstille nach der Einladung "Beuget die Knie" zu kurz ausfällt, dann verkümmern die "feierlichen Orationen" zu einer Turnübung. Und: ja es dauert lange! Die Predigt des Vorstehers ist wichtig, und deshalb wird ihr ausreichend Zeit eingeräumt, aber mindestens genauso wichtig ist die priesterliche Hauptaufgabe der Versammlung. Für die Gottesdienste der Christen des ersten Jahrhunderts war genau das charakteristisch: nach dem Hören des Wortes richteten sie Gebete in den Anliegen der Welt und der Gemeinde an Gott.

Interessant ist, dass man in vielen Gottesdiensten nach der Predigt eine gute und ausreichende Stille findet, in der das Wort der Homilie nachklingt, eine Stille nach den Lesungen, in der das Wort Gottes nachklingen könnte, aber fehlt und die Stille nach einer Gebetseinladung "Lasset uns beten", wenn überhaupt, gerade einmal so lange dauert, wie der Priester braucht, um das Messbuch aufzuschlagen.

 

Stundengebet

Für alle mit dem Stundengebet vertrauten Leser sei noch hinzugefügt, dass der Gebetsteil in Laudes und Vesper sich vorbildlich in die selbe Grundstruktur einfügt. Die Gebetsaufforderung/Einladung findet sich nach dem Benedictus/Magnificat. Die Versammlung nimmt ihre Aufgabe dann im - durch die Angabe von Intentionen strukturierten - (stillen) Gebet war, das in das von allen gesungene Vater unser mündet. An das Vater unser schließt sich dann das abschließende Gebet des Vorstehers gefolgt vom zustimmenden "Amen" der Gemeinde an. Dies ist der Grund, warum auf das Vater unser in Laudes und Vesper eben nicht die Schlussformel ("Denn dein ist das Reich...") folgt und das abschließende Gebet nicht erneut mit "Lasset uns beten" eingeleitet wird. Es geht um eine strukturierte Handlung, die nach dem Benedictus/Magnificat beginnt und mit dem abschließenden "Amen" endet.

Kommentiere diesen Post

M
zu:<br /> 2. "Der Herr nehme das Opfer an, aus deinen Händen, zum Lob und Ruhme seines Namens, zum Segen für uns und seine ganze heilige Kirche." (= Gebet der Gemeinde)<br /> <br /> Kann man bei dieser Formulierung denn von einem Gebet sprechen? Es wendet sich ja gar nicht direkt an Gott und klingt eher wie eine Unterstützungszusage der Gemeinde für das Anliegen des Priesters.<br /> Markus
Antworten
M
Die hier der Gemeinde in den Mund gelegte Formel gehört sicher nicht zu den glücklichsten den Liturgiegeschichte und entspricht in ihrem Ursprung eher dem frühmittelalterlichen Stand des Kirchen- und Gesellschaftsbewusstseins. Inwieweit in einem Gebetswunsch auch Gebet zum Ausdruck kommt, kann man sich tatsächlich fragen. Die Psalmen kennen das übrigens auch (z. B. Ps. 19,3-5; in karolingischer Zeit auch gerade an dieser Stelle als Antwort des Volkes genutzt).