Ite, missa est! - Herkunft und Bedeutung des Entlassrufes der Messe

Veröffentlicht auf von Markus Tymister

Schon in der ältesten Beschreibung der römischen Papstliturgie im 7. Jahrhundert, im sog. Ordo Romanus I, 124-126 (Les Ordines Romani, ed. M. Andrieu [SSL.ED 23], Louvain 1971, 107-108), ist uns der Ruf Ite, missa est überliefert: Nach der Kommunion und der vom Papst vorgetragenen Schlussoration, spricht der Erzdiakon, auf ein Zeichen des Pontifex hin, zum Volk: Ite, missa est, worauf alle antworten Deo gratias. Daran schließt sich die Rückkehr in die Sakristei an, während derer zuerst die Bischöfe, dann die Presbyter, die Mönche, die Scholasänger und weitere den Papst um den Segen bitten mit den Worten: Iube, domne benedicere. Worauf der Papst mit Benedicat nos dominus antwortet, was von den Anwesenden mit Amen wiederum bestätigt wird.

Der Segen war ursprünglich ein Sonderritus der Papstmesse und wurde nach der Entlassung und während der Prozession in die Sakristei mittels der Fomel Benedicat nos dominus - Es segne uns der Herr gegeben. Ein begleitender Ritus (Kreuzzeichen) war ursprünglich noch nicht bekannt. Schnell wurde dieser Segensbrauch von den Bischöfen aufgegriffen, bis dieser angehängte Segen dann schließlich vom Altar aus erfolgte. In Gallien hatte sich schon seit dem 5. Jahrhundert, aus dem allgemeinen Segen nach dem Eucharistiegebet, ein Segen zur Entlassung der Nichtkommunikanten nach dem Paternoster herausgebildet, der etwa ab 600 auch von den Presbytern übernommen wurde. Als im 8. Jh. im fränkisch-gallischen Raum die römische Liturgie übernommen wurde, wanderte dieser Segen nach römischem Vorbild nach hinten, an den Schluss der Messe. Spätestens ab dieser Zeit war daher auch ein Segen des Priesters vom Altar aus, nach dem Ruf Ite, missa est, üblich.

Die Liturgiereform nach dem 2. Vatikanischen Konzil wollte den mittlerweile lange üblichen und jahrhundertelang sehr geschätzten Segen nicht abschaffen und korrigiert nur die Abfolge der Elemente, indem sie den Segen vor den Entlassungsruf platziert. In der Bischofsmesse bleibt zusätzlich der Segen des Bischofs bei der Auszugsprozession, was in diesem Fall für eine Doppelung sorgt, die nach SC 50 eigentlich vermieden werden sollte.

Die genaue Bedeutung des Rufes Ite, missa est ist schwer zu klären. Eine Entlassung am Ende von kultischen Riten war schon in vorchristlicher Zeit und im Altertum bekannt; der Wortlaut Ite, missa est kommt hingegen ausschließlich im christlichen Gottesdienst vor. Zunächst einmal scheint missa das passive Partizip von mittere (u. a. = legen, stellen, setzen; n. b.: mittere hat schon im Spätlatein, ungefähr ab dem Jahr 250 n. Chr. diese Bedeutung angenommen und hält sie im ma. Latein durch) zu sein, was aber auf den ersten Blick an dieser Stelle schwer zu erklären ist, denn die Frage, wer oder was gestellt oder gesetzt ist, bleibt erst einmal unbeantwortet. Daher gelangte man zur Deutung des substantivierten Partizips, das - in einem degenerierten Latein - die Bedetung von "Entlassung" oder "Sendung" angenommen habe (dabei hat man sicher auch an die Bedeutung von mittere im klass. Latein gedacht). Am Ende der Eucharistiefeier des römischen Ritus stehe daher die - etwas trockene - Ankündigung: "Geht, es ist Entlassung" (so u. a. auch J. A. Jungmann, «Entlassruf. B. Christlich», in Reallexikon für Antike und Christentum 5, hg. Th. Klauser, Stuttgart 1963, 460 mit Verweis auch auf μίσσα oder μίνσα als Bezeichnung der Entlassung am byzantinischen Hof). Eine etwas weniger trockene und weitverbreitete Interpretation deutet missa als Sendung der Feiernden in die Welt (lat. missio und nicht missa). Diese Deutung ist zwar pastoral erbaulich, aber sachlich wohl eher unbegründet (vgl. H.B. Meyer, «Messe», in LThK 7, Freiburg ²1998, 159).

Interessant ist, dass das 2002 in 2. Auflage veröffentlichte Mittellateinische Wörterbuch von Niermeyer zwar 24 Bedeutungen von mittere kennt, ihm aber die Bedeutung "entlassen" oder "senden" fremd ist (s. J.F. Niermeyer-C. van de Kieft, Mediae Latinitatis Lexicon minus, Bd. 2, Leiden ²2002, 909-910). Das selbe Lexikon kennt auch das abgeleitete Substantiv missa und weist ihm u. a. die Bedeutung "Entlassung" zu, allerdings bezogen nur auf die christliche Messfeier. (Übrigens: ponere, das im klassischen Latein die Bedeutung "legen/stellen/setzen" hat, nimmt im ma. Latein die Bedeutung "bestellen/ernennen/zahlen/geben/ausgeben" an.)

Eine neue und einleuchtende Deutung legt Giovanni Garbini vor: Dio della terra, Dio del cielo, Brescia 2011, 300-302 (für den Text s. auch hier). Garbini greift die offene Frage nach dem Subjekt von missa auf und weist zunächst auf eine linguistisch scheinbar schlüssige Erklärung hin, nach der missa eine passive Form von mittere (senden) ist, und die Formel darauf hinweise, dass am Schluss der Feier die Eucharistie durch die Diakone oder Akolythen zu den Kranken gesendet werde. Es bleibt aber auf religiöser Ebene eine gewisse Perplexität, warum eine so zentrale Feier der Christenheit mit einer solchen, eher technischen, Ankündigung endet. Außerdem sind viele Feiern denkbar, nach denen die Eucharistie nicht zu Kranken gebracht werden musste, von daher wäre eine solche Ankündigung eher eine Nebensache und hätte sich nicht universell durchgesetzt. Ganz anders aber, wenn Ite, missa est weder die Sendung der Feiernden in die Welt bezeichnet noch auf die Sendung der Eucharistie zu den Kranken deutet, sondern sich auf das Opfer bezieht. Damit wird die Formel dann zur Verkündigung, dass das Opfer dargebracht ist: Ite, (hostia) missa est - Geht, das Opfer ist dargebracht/vollendet/beendet. Eine solche Verkündigung entspricht deutlicher dem Charakter der vorausgehenden Feier, auch dann, wenn man davon ausgeht, dass ursprünglich das große Lob- und Dankgebet das geistige Opfer der Christen ist. Die feierliche Verkündigung der Vollendung der gemeinschaftlichen Darbringung des Opfers wird dann auch sinnvollerweise von den Versammelten mit der Bestätigungsformel "Deo gratias" ratifiziert und das Ganze wird so zu einer - der Feier entsprechenden - Entlassung. Eine Bestätigung dieser Deutung kommt auch noch von ganz anderer Seite. Bisher wurde immer die Einzigartigkeit dieser Formulierung unterstrichen, die weder im lateinischen noch im griechischen Bereich eine Parallele findet. Allerdings entspricht missa est exakt einem Ausdruck aus der punischen (spätphönizischen, zu Zeiten von Augustinus [354-430] noch von der nordafrikanischen Landbevölkerung gesprochenen) Sprache: missa est ist die lateinische Übersetzung des punischen molk "quod missum est". Auch das Fehlen des Subjektes unterstreicht die Nähe des lateinischen zum punischen Ausdruck. Während mittere im lateinischen eine generische Bedeutung hat, die nur durch die Übernahme in den christlichen Kult eine religiöse Note annimmt, gehört im Punischen ylk ausdrücklich dem religiösen Vokabular an. Wenn also die semantische Bedeutung von molk und missa est auf diesem Hintergrund wiedergeben werden soll, so bietet sich einzig die Formel: Das Opfer ist dargebracht an. Dass römische Liturgie Elemente der punischen Sprache übernimmt, darf aufgrund der gut ausgebauten Kontakte zwischen Rom und Karthago nicht verwundern.

Auch im Mittelalter geläufige Erklärungen des Entlassrufes beziehen ihn auf das dargebrachte Opfer. So z.B. Gabriel Biel: "Gehet, d.h. kehrt zurück zu dem Eurigen, denn gesandt [missa], d.h. dargebracht, ist Gott die heilbringende Opfergabe für euer und des ganzen Menschengeschlechtes Heil" (G. Biel, Sacri canonis Missae expositio resolutissima literalis et mystica, lectio 89F, übers. von H.B. Meyer, Luther und die Messe [Konfessionskundliche und Kontroverstheologische Studien 11], Paderborn 1965, 379). - Hier liegt auch der Grund dafür, dass Martin Luther diesen Entlassruf für die evangelische Messe nicht übernommen hat.

In diesem Zusammenhang ist auch die Erklärung von Rhabanus Maurus interessant, der im Jahr 819 schreibt: Post communionem ergo et post eiusdem nominis canticum data benedictione a sacerdote ad plebem diaconus praedicat, missae officium esse peractum, dans licentia abeundi" (De institutione clericorum 1.33, hg. Zimpel [FBMG 7] 343). Ite, missa est bedeutet also, dass der öffentliche Gottesdienst der missa vollbracht ist und die Genehmigung zum Weggehen erteilt wird.

Sollte diese Theorie durch zukünftige Forschung weitere Unterstützung bekommen, so wäre dann auch die deutsche Übersetzung "Gehet hin in Frieden" nochmals zu überdenken. Ob dabei der Ruf und seine Antwort vor oder nach dem Segen stehen, ist für deren Bedeutung dabei eigentlich zweitrangig.

Ab dem 6. Jahrhundert wird der Begriff missa mehr und mehr zur Bezeichnung für die gesamte Feier, oft auch im Plural: misae, missarum sollemnia o. ä., bis heute Messe. Durch die Platzierung des Rufes Ite, missa est vor dem Segen hatte missa zunächst zusätzlich die Bedeutung "Segnung" und "feierliches Segensgebet" angenommen. Dass das Wort dann in diesem Sinn "[...] zur Bezeichnung der Eucharistie wird, die im MA ausschließlich vorherrscht, hängt mit der ma. Sicht der Messe zusammen, die mehr auf die Segensfrucht ausgerichtet war, die sie bringt, als auf den Lobpreis des Vaters durch Jesus Christus" (R. Berger, «Messe», in R. Berger, Pastoralliturgisches Handlexikon. Völlig überarbeitete Auflage, Freiburg-Basel-Wien 52013, 282).